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Versagen vom Kreis und Defizite bei ermittelnder Staatsanwaltschaft?
Gräff: „Die Bewertung der Staatsanwaltschaft, niemand habe eine solche Extremflut vorhersehen können, ist falsch“ +++ „Kreisverwaltung verstieß gegen die gesetzlichen Vorgaben“ +++ „Im Bereich des Lebenshilfehauses Sinzig gab es offensichtlich keine systematischen Warnungen„
Der pensionierte Ministerialrat und ehemalige stellvertretende Leiter der Katastrophenschutzabteilung im rheinland-pfälzischen Innenministerium Gerd Gräff hat sich mit heftigen Vorwürfen in die Debatte um folgenschwere Versäumnisse in der Flutnacht im Juli 2021 eingeschaltet. Auf mehr als 150 Seiten zeigt er auf, wo seiner Ansicht nach ein Versagen der gesetzlich vorgeschriebenen Meldekette, ein Versagen des ehemaligen Landrats und eine falsche juristische Bewertung der Staatsanwaltschaft in dieser Frage liegen. Im kommenden Jahr 2026 droht bereits die Verjährung des Verfahrens.
„Ich war sehr überrascht, als ich im April letzten Jahres erfahren musste, dass die Staatsanwaltschaft Koblenz das Ermittlungsverfahren eingestellt hat. Ihre in der Pressekonferenz dargestellte Begründung konnte mich nicht überzeugen„, beginnt Gerd Gräff seine Einschätzung der Causa Katastrophennacht. (Siehe auch Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens: https://www.aktiplan.de/staatsanwaltschaft-stellt-verfahren-ein/)
Hier einige Auszüge der Einschätzung von Gerd Gräff:
„Die Bewertung der Staatsanwaltschaft, niemand habe eine solche Extremflut vorhersehen können, ist falsch„
Gerd Gräff führt in seiner Stellungnahme aus, dass das Umweltministerium bereits 2014 in der Hochwasserpartnerschaft Ahr Hochwassergefahrenkarten vorgestellt habe, die darauf hinwiesen, welche extremen Hochwasser es im Ahrtal schon gab und dass dringend Alarm- und Einsatzpläne gebraucht würden. Beim Jahrhunderthochwasser von 2016 konnte die Kreisverwaltung erste Erfahrungen sammeln, was auf das Ahrtal zukommen könne. Die damalige grüne Umweltministerin Ulrike Höfken hätte dies zum Anlass genommen, allen Landkreisen und kreisfreien Städten bei einem Runden Tisch in Mainz noch einmal zu verdeutlichen, wie ernst die Hochwasserbedrohungslage ist. In einem Folienvortrag unter dem Titel „Schadensminderung durch Hochwasservorsorge – Leben im Tal der Ahnungslosen?“ wurde eine Karte gezeigt, aus der hervorgeht, wie weit Bad Neuenahr-Ahrweiler bei einem Extremhochwasser bei einem Pegelstand in Altenahr von 4,15 m überflutet würde und dass dann mindestens 2.400 Menschen gefährdet wären.
Trotz dieser Vorkenntnisse über die Bedrohungslage durch Starkregenereignisse habe die Kreisverwaltung Ahrweiler nach den Feststellungen des Untersuchungsausschusses 18/1 auf jegliche Alarm- und Einsatzplanung verzichtet und auch keine Evakuierungspläne vorbereitet.
Zitat Gräff: „Damit verstieß sie gegen die gesetzlichen Vorgaben:
- der als Bundesrecht geltenden UN-Behindertenrechtskonvention zum Schutz behinderter Menschen bei Naturkatastrophen
- der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Vorhaltung eines leistungsfähigen Katastrophenschutzsystems und
- des Landeswassergesetzes (LWG) in Verbindung mit dem Brand- und Katastrophenschutzgesetz (LBKG); danach haben die Katastrophenschutzbehörden Alarm- und Einsatzpläne aufzustellen, bei denen auch die Belange von Kindern und von Menschen mit körperlichen, seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen berücksichtigt werden sollen (§ 81 Abs. 2 Satz 1 LWG i. V. m. § 5 Abs. 1 Nr. 4 LBKG).
Diese Verpflichtung zu präventiven Katastrophenschutzmaßnahmen und eine etwaige Kausalität des Unterlassens für mögliche Todesfälle wurden nach allen bisherigen Erkenntnissen von der Staatsanwaltschaft Koblenz nicht hinreichend untersucht. Die Kreisverwaltung kannte aus der Hochwasserpartnerschaft Ahr die „Alarmpegelwerte“ in Altenahr.
Der Kreisverwaltung Ahrweiler war seit 2014 bekannt, welche Pegel-Meldewerte für den Pegel Altenahr bestimmten Hochwasserereignissen zugeordnet sind.
100-jährliches Hochwasser: 370 cm (das wurde beim Jahrhunderthochwasser 2016 erreicht)
Extremhochwasser (mindestens 200-jährlich): 4,15 m.
In der Warnmeldung des Hochwassermeldedienstes am 14.07.2021 um 15:36 Uhr MESZ wurde ein Pegelstand für den späten Abend von bis zu 5 m prognostiziert. Während die Staatsanwaltschaft Koblenz in der Pressekonferenz zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens behauptete, diese Prognose habe lediglich auf ein HQ-100 Ereignis (100-jährliches Hochwasser) hingewiesen, hatte das Umweltministerium eine solche Prognose in der Hochwasserpartnerschaft Ahr wie folgt bewertet:
„Extremhochwasser, wie es keiner von uns in Rheinland-Pfalz erlebt hat“.„
Zitat Ende
Auch der Staatsanwaltschaft wirft Gräff erhebliche Defizite bei den Ermittlungen vor
So habe Herr Oberstaatsanwalt Mannweiler in der Pressekonferenz gesagt, die Kreisverwaltung habe auf die Pegelstandsprognose von 15:26 Uhr durchaus sinnvoll reagiert. Da der tatsächliche Pegelstand noch völlig unauffällig gewesen sei, sei es vertretbar, dass die Kreisverwaltung erst einmal die weitere tatsächliche Pegelentwicklung abwarten wollte. Das decke sich aber nicht mit den Einsatzvorgaben des vom Innenministerium herausgegebenen Rahmen- Alarm- und Einsatzplans Hochwasser, schreibt Gräff. Danach müssten sich die Einsatzmaßnahmen nach den Pegelprognosen richten.
Zitat Gräff: Sobald es Hinweise auf ein mindestens 100-jährliches Hochwasser gibt:
- muss mindestens die Alarmstufe 4 ausgerufen werden und der Landkreis muss die Einsatzleitung übernehmen (das tat er erst mehr als 2 Stunden später)
- muss die systematische Warnung der Bevölkerung nach vorbereitetem Plan erfolgen
- müssen Evakuierungen nach vorbereitetem Plan eingeleitet werden (einen solchen gab es bei der Kreisverwaltung Ahrweiler aber nicht)
- muss die Bundeswehr alarmiert werden, denn diese verfügt insbesondere über watfähige Fahrzeuge; dies geschah erst fast 6 (!) Stunden später, sodass die Soldaten vor allem aus Koblenz und Rennerod erst in der Nacht nach Bad Neuenahr-Ahrweiler kamen, als der Flut schon zahlreiche Menschen zum Opfer gefallen waren.
Zitat Ende
Wann hätte die Kreisverwaltung spätestens Evakuierungen einleiten müssen?
Nach den Feststellungen des Untersuchungsausschusses 18/1 musste für die Verantwortlichen vor Ort mit Ausrufen der höchsten Warnstufe (lila) der Hochwasserfrühwarnung um 17.17 Uhr (MESZ) der Eintritt eines extremen Hochwassers (HQextrem) klar gewesen sein.
Selbst die Staatsanwaltschaft habe zugestanden, dass die Pegelentwicklung nach 20:00 Uhr schnell angestiegen sei. Um 20:43 Uhr habe sich diese Entwicklung schließlich mit 5,41 Metern am Pegel Altenahr manifestiert, die Prognosen, welche die Kreisverwaltung auch erreicht hätten, wären zu dieser Zeit bereits in Richtung 7 m (!), also fast 3 m höher als der Bezugspegelstand von 4,15 m für ein Extremhochwasser gegangen.
Der Technischen Einsatzleitung (TEL) hätten in diesem Zeitraum bereits Informationen über weggerissene Häuser in Schuld vorgelegen. Sie habe auch gewusst, dass in Altenahr Menschen auf Dächern auf die Rettung durch Hubschrauber warteten, die aber wegen des schlechten Wetters nicht starten konnten.
Kurz vor 22:00 Uhr hätten Hubschraubervideos des ADAC-Hubschraubers Christoph 23 die TEL erreicht.
Dieses Videomaterial zeigte Aufnahmen von Häusern, die bis zur Dachtraufe im Wasser standen und ein über die Ahr treibendes komplettes Hausdach. Das Videomaterial wäre bei der TEL einfach „untergegangen“ und wurde dem Leiter der TEL nicht vorgelegt.
Insoweit wären die Bewertungen der Staatsanwaltschaft, niemand habe in der Flutnacht mit einem derartigen Extremereignis rechnen können, durch die Feststellungen des Untersuchungsausschusses widerlegt.
Fehleinschätzung für das Lebenshilfehaus in Sinzig?
Zitat Gräff: „Bereits aus den Pegelprognosen für den Pegel Bad Bodendorf vom 15:26 Uhr war ableitbar, dass das Lebenshilfehaus in der Nacht überflutet wird. Prognostiziert waren zu diesem frühen Zeitpunkt bereits bis zu 4,00 m. Um 21:26 Uhr wurde diese Prognose noch einmal auf 4,20 m erhöht. Am Pegel Bad Bodendorf lag damals das HQ100 nach den Gefahrenkarten bei 3,24 m. Diese Marke wurde zwischen 23:15 und 23:30 Uhr mit 3,27 m erreicht. In der Prognose hatte das Landesamt für Umwelt dies erst für 0.45 Uhr am 15. Juli vorausberechnet. Damit stand bereits nachmittags, spätestens jedoch am frühen Abend fest, dass es zu einem Extremhochwasser kommen wird, das weit über den berechneten Überflutungsbereichen für ein 100-jährliches Hochwasser liegen und auch das im HQ-extrem-Gebiet liegende Lebenshilfehaus erreichen wird.
Das Gelände ist Teil des natürlichen Überschwemmungsgebietes der Ahr. Es liegt etwa 2,5 m über dem Niveau der Ahr. Wenn dann eine Prognose für den nur wenige Kilometer entfernten Pegel Bad Bodendorf über 4,20 m kommt, muss auch Laien klar sein, dass das Lebenshilfehaus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Verlauf der Nacht überflutet wird.“
Im Gegensatz zur Bewertung der Staatsanwaltschaft Koblenz gab es im Bereich des Lebenshilfehauses offensichtlich keine systematischen Warnungen.
Die Einschätzung der Staatsanwaltschaft, in Sinzig habe die Abschnitteinsatzleitung weitgehend die Zeitvorteile genutzt, die man in Bad Neuenahr-Ahrweiler nicht mehr hatte, ist problematisch. Es hätten im Rahmen des Möglichen systematische Warnungen und Räumungsaufforderungen der ahrnahen Bevölkerung stattgefunden. Diese Bewertung findet keine Stütze in den offenkundigen Tatsachen. So hat der Untersuchungsausschuss 18/1 erhebliche Mängel bei der Warnung der Bevölkerung festgestellt. Die Kreisverwaltung Ahrweiler habe auf ein reines Zufallssystem gesetzt und ihre Mitarbeitenden nicht ausreichend ausgebildet. So habe nur ein einziges Mitglied der TEL Meldungen über das ergänzende Warnsystem Katwarn absetzen können, das ohnehin nur etwa 10 % der Menschen im Landkreis Ahrweiler erreichen konnte (mehr Menschen verfügten nicht über die KATWARN-App). Dieser ausgebildete Mitarbeiter sei aber gar nicht durchgängig in der TEL gewesen. Wegen Ausbildungsmängeln habe das Modulare Warnsystem des Bundes, über das auch Warnungen an Radiosender gesteuert werden können, gar nicht bedient werden können. [...]
Zitat Ende
Gräff: „Die Bewertung der Staatsanwaltschaft Koblenz zur Bedeutung der Feststellung des Katastrophenfalls ist falsch.“
Zitat Gräff: „Herr Oberstaatsanwalt Mannweiler hatte in der Pressekonferenz zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gesagt: „Ein Wort noch zum Katastrophenfall: Die Ablehnung der Ausrufung des Katastrophenfalls wurde in der Öffentlichkeit sehr, sehr heftig diskutiert und auch kritisiert. Für die strafrechtliche Bewertung ist das aber ohne größere Bedeutung. Denn die Ausrufung des Katastrophenfalls, an die sind kaum zwingende Konsequenzen geknüpft. Er ist weitgehend rein deklatorischer Natur. Durch die Ausrufung des Katastrophenfalls an sich werden keine Menschen gerettet. Deshalb ist das strafrechtlich nicht so wichtig.“
Diese Bewertung ist falsch, was die Staatsanwaltschaft auch aus den Sachverständigengutachten des Berliner Prof. Gißler und des Krisenforschers Roselieb wissen musste. Ab der Ausrufung der Alarmstufe 5 (Katastrophenfall) wird auch in Rheinland-Pfalz nicht mehr von einer einzigen Technischen Einsatzleitung geführt, sondern die Führungsorganisation wird nach der Feuerwehr-Dienstvorschrift 100 aufgespalten in folgende drei für eine wirksame Gefahrenwehr unverzichtbare Komponenten:
- Politisch-gesamtverantwortliche Leitung (Landrat), die es im Landkreis Ahrweiler schon von der Vorbereitungsplanung her nicht gab; nur diese Komponente ist befugt, Evakuierungen anzuordnen
- Führungsstab mit Technischen Einsatzleitungen für die operative Führung der Einheiten im Schadensgebiet; insbesondere die TEL ist nicht dafür da, strategische Entscheidungen und Evakuierungsanordnungen zu treffen
- Verwaltungsstab, in den alle relevanten Bereiche der Kreisverwaltung einzubinden sind; dieser nicht vorhandene Verwaltungsstab hätte bei der Festlegung der Evakuierungsbereiche unterstützen können, denn der Fachbereich „Untere Wasserbehörde“ muss auch Hochwassergefahren- und -risikokarten interpretieren können; auch für Allgemeinverfügungen zur Evakuierung ist ein solcher Verwaltungsstab unverzichtbar.„
Zitat Ende
Eine wirksame Führungsorganisation im Katastrophenschutz wäre entscheidend dafür, ob Menschen gerettet werden oder nicht. Das zeige der Vergleich mit den anderen betroffenen Kreis- und Stadtverwaltungen in der Region Trier und in der Eifel: Dort hätten alle Behörden ihren Katastrophenschutz auch führungsmäßig gesetzeskonform vorbereitet und hätten deshalb auch wirksam die ihnen anvertrauten Menschen schützen können. Es gab im ehemaligen Regierungsbezirk Trier nur einen einzigen Toten.
Der Untersuchungsausschuss 18/1 habe festgestellt, dass die Vorbereitungen der Kreisverwaltung Ahrweiler dagegen insbesondere wegen des fehlenden Krisenbewusstseins des Landrats nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprochen hätten.
„Staatsanwaltschaft hat offensichtlich keine ausreichenden tatortbezogenen Ermittlungen vorgenommen„
Wie bei Hochwasserkatastrophen eine tatortspezifische Ermittlungsarbeit aussehen sollte zeige Nordrhein‐Westfalen. Danach würde bei jedem einzelnen Todesfall untersucht, ob der Todesfall innerhalb eines in den Gefahrenkarten markierten Überflutungsbereichs eintrat und wie hoch die Wasserstandsklasse gemäß der Gefahrenkarte des HQextrem wäre. Auf detaillierten tatortbezogenen Ermittlungen habe die Staatsanwaltschaft Koblenz ganz offensichtlich verzichtet und nur die Entfernung der Todesorte von der Ahr festgestellt.
Ursächlich dafür dürfte sein, dass sich die Staatsanwaltschaft über die nach dem Ressortprinzip auch für sie maßgeblichen Vorgaben des Ministeriums des Innern und für Sport für die Erstellung von Alarm- und Einsatzplänen Hochwasser und vor allem von Evakuierungsplänen hinweggesetzt habe.
Mutmaßliche Rechtsverstöße der Kreisverwaltung Ahrweiler seien ganz offensichtlich nicht gründlich genug untersucht worden, obwohl diese Gesetzesverstöße ursächlich für Todesfälle hätten sein können.
Ein wesentlicher Fehler im Ermittlungsverfahren hätte sein dürfen, dass es die Staatsanwaltschaft im Gegensatz zum Untersuchungsausschuss 18/1 offensichtlich unterlassen hätte aufzuklären, welche gesetzlichen Pflichten es für eine Kreisverwaltung als Katastrophenschutzbehörde, untere Wasserbehörde und Kreismeldestelle des Hochwassermeldedienstes (nach der Hochwassermeldeverordnung) für die Vorbereitung einer wirksamen Hochwassergefahrenabwehr gebe, welche Verantwortung hierfür im Rahmen eines Organisationsverschuldens vor allem den Behördenleiter treffe und ob die gesetzwidrigen Unterlassungen möglicherweise ursächlich für Todesfälle sein könnten.
Zitat Gräff: „Weitgehend unberücksichtigt blieben dabei vor allem die folgenden gesetzlichen Vorgaben:
- Die wasserrechtlichen Pflichten zur Warnung der Bevölkerung sowie zu einer Alarm- und Einsatzplanung, die auch die Belange von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt (§ 81 Abs. 2 Satz 1 LWG i. V. m. § 5 Abs. 1 Nr. 4 LBKG), waren den Verantwortlichen der Kreisverwaltung bekannt, wurden aber ignoriert.
- Die Vorgaben der unionsrechtlichen Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie für ein leis-tungsfähiges Hochwasserrisikomanagementsystem insbesondere durch Berücksichtigung von Gefahren- und Risikokarten wurden nicht beachtet.
- Auch die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention an einen wirksamen Schutz von Menschen mit Behinderungen bei Naturkatastrophen wurden offensichtlich ignoriert. Nach diesen als verbindliches Bundesrecht geltenden Vorgaben wäre eine Evakuierungsplanung für das in einem Hochwasserrisikogebiet (natürliches Überschwemmungsgebiet der Ahr) liegende Lebenshilfehaus zwingend erforderlich gewesen. Die Einrichtung hätte nicht „vergessen“ werden dürfen.
- Auch die Anforderungen an eine wirksame Gefahrenabwehrorganisation insbesondere bei der Warnung der Menschen vor Naturkatastrophen und bei der Evakuierung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, die für Rheinland-Pfalz für die Hochwassergefahrenabwehr in § 81 Abs. 2 Satz 1 LWG i. V. m. § 5 Abs. 1 Nr. 2 LBKG konkretisiert ist, wurden nicht beachtet. Danach muss die Stabsorganisation eine wirksame Gefahrenab-wehr gewährleisten.
- Auch die Vorgaben der Hochwassermeldeverordnung, die in den Regionalen Hochwassermeldeplänen 2018 konkretisiert sind, wurden offensichtlich missachtet. Nach Zeugenaussagen im Untersuchungsausschuss 18/1 gab es keine Weiterleitung der Warnungen von der Kreismeldestelle, also der Kreisverwaltung Ahrweiler, an die Gemeinden. Im Gegensatz zu allen anderen betroffenen Kreis- und Stadtverwaltungen in der Region Trier und in der Eifel, in denen bis auf die Ebene der Ortsgemeinde jederzeit bekannt war, was auf die Gemeinden zukommt, hat es die Kreisverwaltung Ahrweiler offensichtlich geset-zeswidrig unterlassen, ihren Pflichten nach der Hochwassermeldeverordnung nachzukommen.
Fazit Gräff:
„Das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen ehrenamtlichen Brand- und Katastrophenschutzinspekteur läuft jetzt schon fast vier Jahre. Das ist eine sehr starke Belastung für den Betroffenen und seine Familie. Insgesamt sahen sich Ehrenamtliche zu Unrecht im Fokus der Kritik. Die Einsatzkräfte vor Ort haben bis an die Grenze der körperlichen und psychischen Belastbarkeit gearbeitet und haben dabei oftmals eigene Lebensgefahr in Kauf genommen. Ohne diesen Einsatz von überwiegend ehrenamtlichen Feuerwehrangehörigen, Helferinnen und Helfern der Hilfsorganisationen, Soldatinnen und Soldaten hätten noch viel mehr Menschen ihr Leben verloren. Dies gilt nach der Feststellung des Untersuchungsausschusses auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der TEL in der Flutnacht, die zur Lagebewältigung offensichtlich alles ihnen menschlich Mögliche veranlasst hätten. Sie waren aber vergleichbar mit einem Dachdecker, dem der Meister verweigert, einen Hammer zu benutzen. Ihnen fehlten die zur Lagebewältigung notwendigen Handwerkszeuge, also vor allem die Alarm- und Einsatzpläne, Hochwassergefahren- und risikokarten und das Verwaltungspersonal, das in der Hochwasserpartnerschaft Ahr mitgewirkt hatte und diese Karten interpretieren konnte. Insgesamt waren sie von Anfang an überlastet und auf sich allein gestellt, eine Unterstützung durch den politisch- gesamtverantwortlichen Landrat gab es so gut wie nicht.
Auch der Leiter der TEL, der ehemalige Brand- und Katastrophenschutzinspekteur, konnte nach allen vorliegenden Informationen nicht mehr tun und war offensichtlich in seiner Entscheidungsgewalt nicht frei. Sein Vorgänger hatte beim Jahrhunderthochwasser im Jahr 2016 bei einem Pegelstand in Altenahr von 3,71 m die Einsatzleitung übernommen und war „zum Dank“ für sein offensives Verhalten internen Ermittlungen des Landrats ausgesetzt. Das dürfte sich auch auf die Entscheidungsfreude seines Nachfolgers ausgewirkt haben, der bei einem prognostizierten Pegelstand von 5 m (!) noch keinen Anlass sah, unverzüglich die Einsatzleitung zu übernehmen und sich noch mehrere Stunden Zeit ließ. Vor diesem Hintergrund dürfte die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen ihn in Ordnung sein.
Ganz anders sieht das beim ehemaligen Landrat aus. Hier hat der Untersuchungsausschuss 18/1 erhebliche Defizite bei den Vorbereitungsmaßnahmen und bei der Einsatzabwicklung festgestellt. Der Landrat hat mutmaßlich ein gefährliches System geschaffen, dass auch nicht ansatzweise in der Lage war, die Menschen im Ahrtal wirksam vor Hochwassergefahren zu schützen. Ich kann mich deshalb uneingeschränkt dem Fazit des Untersuchungsausschusses anschließen:
„Es verwundert anhand der im Vergleich zu anderen Landkreisen vorstehend dargestellten strukturellen Defizite im Führungs- und Organisationssystem des Landkreises Ahrweiler nicht, dass sich diese auf die Bewältigung des konkreten Ereignisses, der Flut am 14./15. Juli 2021, negativ ausgewirkt haben.“
Vorstehende Defizite zeigen erneut, dass der damalige Landrat des Landkreises Ahrweiler seiner politischen Gesamtverantwortung als oberster Katastrophenschützer im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe nicht gerecht geworden ist.„
Zitat Ende
AG + MR
Zitate: Gerd Gräff