Abgründe im Leben eines Kirchenmusikers
Zehn Jahre nach seinem Tod bringen Recherchen zum Projekt einer Sinziger Musikroute eine dunkle Seite des früheren Kirchenorganisten von St. Peter ans Licht – Ein Betroffener spricht mit dem Rhein-Ahr Anzeiger
Sinzig. Die Barbarossastadt Sinzig sucht ein neues Leitbild und will sich dabei auch als Musikstadt profilieren. Dafür soll es auch eine sogenannte „Musikroute“ mit Stationen in der Innenstadt geben, an denen besondere Personen und Plätze aus der Sinziger Musikwelt vorgestellt werden. Was für manchen zunächst befremdlich klingen mag, weil aktuell musikalisch (noch) nicht gerade viel in Sinzig passiert, hat durchaus seine Berechtigung. Denn blickt man in die Historie der Stadt, entdeckt man erstaunlich viele spannende Fakten und Geschichten rund um die Musik.
Peter Bares – Kirchenorganist von St. Peter
Eine der bekanntesten Sinziger Namen in diesem Bereich dürfte Peter Bares sein – doch gleichzeitig ist der frühere Kirchenorganist von St. Peter auch der umstrittenste Vorschlag auf der Liste derer, die jetzt einem Auswahlgremium für die Musikroute vorgelegt worden sind. Denn mit dem vor gut zehn Jahren verstorbenen Kirchenmusiker und Komponisten verbinden sich nicht nur die Internationale Orgelwoche in Sinzig sowie unzählige herausragende Werke moderner Kirchenmusik und mehrere Lyrikbände, sondern es gibt auch eine bislang weithin unbekannte Seite des Peter Bares. Und die drängt jetzt ans Licht.
Die etwas älteren Sinzigerinnen und Sinziger kennen ihn, den exzentrischen Musiker mit der voluminösen Figur und dem langen Bart, den er fortwährend kraulte. Sie hörten ihn an der Kirchenorgel, wenn sie – damals noch in Scharen – als Kinder in die Kirche gingen, wo Peter Bares an der nach seinen Plänen gebauten, neuen Walcker-Orgel die Kirchenlieder begleitete und den Gläubigen mit seinem dynamischen Spiel oftmals ein Stück voraus war. Sie sahen ihn, wie er von dem noch heute als Bares-Haus bekannten kleinen Backsteinhaus neben dem Rathaus aufbrach und mit den Händen auf dem Rücken seinen Gang durch die Stadt machte. Oder sie trafen ihn in der Kneipe, wo sich Bares immer wieder gerne ein Bier gönnte, Diskussionen mit beißendem Spott würzte oder sich in Selbstironie übte.
Seit 1960 in der Sinziger Pfarrei St. Peter angestellt
Peter Bares, Jahrgang 1936, gehörte für viele zu Sinzig wie die Pfarrkirche selbst. Immerhin war der gebürtige Essener nach seinem (nicht abgeschlossenen) Kirchenmusik-Studium an der Folkwang-Hochschule bereits seit 1960 in der Sinziger Pfarrei St. Peter angestellt. Bis 1985 sollte das so bleiben. Im Jahr 1976 hob er die renommierten Internationalen Studienwochen für Neue Geistliche Musik aus der Taufe. „Er regte Komponisten zu neuen Orgelwerken an und beeindruckte Kollegen und Schüler mit seinem Charisma“, heißt es in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia über Peter Bares. Er selbst schuf ein Werk von mehr als 3000 Kompositionen, die teils im Nationalarchiv in Berlin aufbewahrt werden, und gab zudem fünf Bücher mit Lyrik aus seiner Feder heraus. Ein verdienter Künstler, erfüllt von unermüdlichem Schaffensdrang. Viele Besucher werden sich an sein Musikzimmer erinnern, an die von Notenblättern überhäuften Möbel und Fußböden.
Der Musiklehrer Peter Bares
Und dann ist da der Musiklehrer Peter Bares. Und in dieser Funktion hat er offensichtlich lange Jahre auch eine zweifelhafte Rolle gespielt. Gut zehn Jahre nach seinem Tod fällt ein grelles Licht auf dieses Kapitel: Im Rahmen der Faktensammlung für die Sinziger Musikroute wurde bekannt, dass sich Bares als Orgel- und Klavierlehrer immer wieder und über viele Jahre seinen minderjährigen Musikschülern auch sexuell genähert haben soll. Einer der Betroffenen hat im Gespräch mit dem Rhein-Ahr Anzeiger seine Geschichte mit Peter Bares offenbart. Und diese Geschichte begann für ihn bereits im Alter von elf Jahren – in einer Zeit, in der von renommierten Reformpädagogen in Deutschland allenthalben die „Befreiung“ der pädophilen Sexualität gepredigt wurde.
Der Orgelschüler Roland S.
Es war 1977, als der Junge – nennen wir ihn Roland S. – sich als Orgelschüler bei Peter Bares einfand. „Ich habe dieses Instrument geliebt“, erinnert sich der heute 57-Jährige an diese Zeit zurück. Doch viel tiefer als die Musik sitzen die Erinnerungen an die Übergriffe, die der Junge schon bald während der Unterrichtsstunden über sich ergehen lassen musste und die ihn heute noch wütend machen, wenn er davon erzählt. Den ersten „Zungenkuss“ musste der Orgelschüler nach seinen Angaben von seinem Orgellehrer erleben, Griffe unterhalb der Gürtellinie, die der Junge starr vor Schreck über sich ergehen ließ, gehörten danach ebenfalls zum Repertoire des Unterrichts – genau wie die Hefte mit harten Pornobildern, die Bares während der Stunden wie zufällig auf dem Klavier liegen ließ, sodass sie dem Schüler ins Auge fielen.
Sexuelle Übergriffe im Unterricht
„Ich konnte zu Hause nicht darüber reden“, erklärt Roland S., warum sein Martyrium sich über mehr als drei Jahre erstreckte. Zu sehr lastete das Schuldgefühl auf dem Jungen, sich nicht genug gegen die Übergriffe aufgelehnt zu haben. Zudem verfügte Peter Bares tatsächlich über ein sehr ausgeprägtes Charisma. „Jedem seiner Jünglinge, wie er sie nannte, gab er das Gefühl, er sei besonders“, erinnert sich Roland S. an ein „System des Forderns und Belohnens“, das den sexuellen Missbrauch begleitete. „Ich habe aus Scham geschwiegen“, stellt der gebürtige Sinziger rückblickend fest.
Ende eines Leidenswegs
Im Jahr 1981 verliebte sich der Junge in ein Nachbarmädchen. „Da wurde von mir heraus klar, dass das falsch ist, was dort im Orgelunterricht passierte“, erzählt Roland S. Dem Mädchen verschwieg er den Missbrauch nicht, und sie zeigte zum Glück Verständnis. Seine Eltern indes erfuhren nichts von dem Leiden des Jungen. Sie konnten sich auch nicht erklären, warum die schulischen Leistungen des eigentlich so guten Schülers plötzlich absackten. Doch in Roland S. wuchs in dieser Zeit die Gegenwehr. 1981 endete schließlich auch der Leidensweg des Orgelschülers – er wurde von Peter Bares aus dem Unterricht gefeuert, nachdem er es gewagt hatte, Kritik an der Abwehrhaltung seines Meisters gegen die gesamte musikalische Popkultur zu üben. In dieser Frage kannte Peter Bares keine Kompromisse. So ging Roland S. seinen weiteren Weg ohne den Sinziger Orgellehrer. Erst Anfang der 90er-Jahre, als er bereits ein Mann in den Zwanzigern war, offenbarte sich Roland S. seiner Mutter, die schließlich auch ihren Mann einweihte. Der Schock der Eltern saß tief.
„Ich habe selbst einen Weg heraus gefunden“, sagt Roland S. rückblickend. Das sei vermutlich auch der Grund, warum er das Geschehen so gut verarbeitet habe. „Daran ist mein Selbstbewusstsein gewachsen“, glaubt er.
Wie viele Musikschüler sind noch betroffen?
Andere hatten nicht dieses Glück. Roland S. weiß, wie er sagt, von mindestens zwei anderen Klavier- und Orgelschülern, die sein Schicksal geteilt haben. Es seien Kinder von Eltern mit akademischem Hintergrund gewesen, die wie er offenbar allesamt äußerst behütet aufgewachsen waren und dabei oftmals nicht gelernt hatten, Nein zu sagen. Wie viele Betroffene es wirklich waren, lässt sich indes nur erahnen. Und welche lebenslangen Wunden die Übergriffe ihres Musiklehrers hinterlassen haben, lässt sich ebenfalls nur vermuten. Doch für Roland S. steht fest: „Peter Bares hat Kinderseelen in Sinzig großes Leid zugefügt.“
1985 kündigte die Kirche Peter Bares
1985 schließlich kündigte die Kirche überraschend ihrem verdienten Organisten – unter heftigen und internationalen Protesten vieler seiner Anhänger. Die Internationale Studienwoche indes lebte weiter: Bares setzte sie noch zehn Mal in Bonn und Köln fort.1992 wurde er an die Kunst-Station Sankt Peter Köln berufen, wo er noch viele Jahre wirkte. 2008 beendete er seinen Dienst als Organist. Am 2. März 2014 starb er im Alter von 78 Jahren und ruht seitdem auf dem Sinziger Friedhof. Beim Sterbeamt in Köln, so heißt, es, soll auch jene dunkle Seite von Peter Bares angesprochen worden sein. In der Barbarossastadt Sinzig indes wurde dies nie öffentlich thematisiert. „Hier wurde alles unter den Teppich gekehrt“, erinnert sich Roland S. mit Bitterkeit zurück.
Kontaktadresse für Verdachtsfälle:
Für Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Priester, Ordensleute oder andere kirchliche Mitarbeiter hat das Bistum Trier unabhängige Kontaktpersonen, an die sich Betroffene wenden können:
Fachanwältin Ursula Trappe, Tel. 0151 50681592, und der
Psychologe Markus van der Vorst, Tel. 0170 6093314.
Missbrauch in der katholischen Kirche wird öffentlich
Für den beruflich eingespannten und auch ehrenamtlich engagierten Sinziger geriet das von Peter Bares verursachte Trauma über die Jahre in den Hintergrund. Bis er 2010 über eine Dokumentation im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ zum Missbrauch in der katholischen Kirche stolperte. „Dort habe ich mich zu 100 Prozent wiedererkannt. Da brach alles aus mir heraus“, erzählt Roland S., und er ist immer noch selbst überrascht von seiner heftigen emotionalen Reaktion, als dieses scheinbar erledigte Kapitel seines Lebens wieder an die Oberfläche gespült wurde.
Er fasste den Entschluss, die Kirche zu stellen. Ein Gespräch mit dem Trierer Prälaten Dr. Rainer Scherschel, der bis 2010 als Beauftragter für Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Priester, Ordensleute oder andere kirchliche
Mitarbeiter im Bistum Trier agierte, wurde für den Sinziger dann zu einer weiteren Offenbarung. Sehr schnell wusste Scherschel demnach, um wen es sich in dem Gespräch handelte: um den früheren Sinziger Organisten Peter Bares. Und der Prälat reagierte mit Empathie und ehrlicher Betroffenheit. Schließlich reihte sich der Fall von Roland S. ein in eine schier unüberschaubare Zahl von Missbrauchsfällen, die seit Jahrzehnten mit dem Mantel des Schweigens bedeckt worden waren und plötzlich über die Kirche hereinbrachen wie ein Tsunami.
Anerkennungsschreiben des Bistums Trier
Roland S. erhielt schließlich das geforderte Anerkennungsschreiben des Bistums Trier, das sich für die Fälle des sexuellen Missbrauchs auch offiziell entschuldigte. Statt der üblichen 5000 Euro erhielt Roland S. allerdings 4000 Euro, weil der Missbrauch ja nicht von einem Geistlichen, sondern „nur” von einem Angestellten der katholischen Kirche verübt wurde.
Der Fall von Roland S. blieb allerdings nach Angaben des Bistums Trier der bislang einzige, für den eine solche Anerkennungsleistung wegen Missbrauchs im Fall Peter Bares gezahlt wurde. 2018 habe es zwar einen weiteren Hinweis eines mutmaßlich Betroffenen gegeben, doch dieser habe keinen Antrag auf eine Anerkennungsleistung gestellt, teilte das Bistum auf Anfrage des Rhein-Ahr Anzeigers mit. Demnach dürften mögliche weitere Betroffene diese traumatischen Erfahrungen im Orgel- und Klavierunterricht mit sich alleine ausgemacht haben.
Von dem Sinziger Missbrauchsverdacht hat das Bistum nach Angaben einer Sprecherin erst im Jahr 2010 durch Roland S. erfahren. “Zu diesem Zeitpunkt stand der Beschuldigte in keinem Dienstverhältnis mehr zur Kirchengemeinde“, betonte das Bistum. Der zu diesem Zeitpunkt aktuelle Dienstgeber des Beschuldigten sei durch das Bistum informiert worden. Zu dieser Zeit hatte Bares bereits seinen Dienst als Organist beendet, er war aber 2008 zum Titularorganisten an St. Peter Köln ernannt worden, ein besonderer Ehrentitel für verdiente Organisten.
Noch keine Hinweise auf ältere Missbrauchsfälle
Mögliche Hinweise auf Missbrauchsfälle, die bereits seit den 60er-Jahren bekannt gewesen sein sollen, waren dem Bistum Trier “laut Aktenlage” nicht bekannt. Auch die überraschende Kündigung von Bares durch die Sinziger Pfarrgemeinde im Jahr 1985 soll damit nicht in Zusammenhang stehen. “Der Aktenlage nach gründete die Kündigung ausschließlich auf künstlerischen und nachfolgend arbeitsrechtlichen Differenzen zwischen dem damaligen Pfarrer, Ehrenamtlichen und dem Organisten“, erklärte die Sprecherin.
Warum wurde der Fall Bares nie öffentlich bekannt?
Und warum wurde der Fall Bares nie öffentlich bekannt? Es habe laut einer Aktennotiz nach einem Telefonat mit Roland S. dem “ausdrücklichen Wunsch des Betroffenen” entsprochen, “dass seitens des Bistums weder die Öffentlichkeit noch die Staatsanwaltschaft informiert werden sollten“, erklärte die Sprecherin. Vonseiten des Bistums habe es demnach auch keinen Kontakt zu den Strafverfolgungsbehörden gegeben. “Fälle aus der Vergangenheit werden dann öffentlich gemacht, wenn eine betroffene Person darum bittet oder wenn neue Erkenntnisse darauf deuten, dass es weitere Betroffene geben könnte“, so das Bistum Trier.
Diese Antwort des Bistums bringt Roland S. erneut in Wallung. Denn nach seiner Darstellung war es so: Ein kirchlicher Mitarbeiter habe ihm damals nahegelegt, den Fall nicht öffentlich zu machen, um keine alten Wunden aufzureißen. Dem Vorschlag sei er gefolgt.
“Die Sinziger Missbrauchsfälle dürfen nicht noch einmal verschwiegen werden”
Doch der Plan, Peter Bares im Rahmen der “Sinziger Musikroute” zu ehren, hat für Roland S. alles geändert. Die Sinziger Missbrauchsfälle dürften nicht noch einmal verschwiegen werden, fordert der 57-Jährige jetzt mit Nachdruck einen differenzierten Blick auf den Kirchenmusiker.
Für Roland S. wird der sexuelle Missbrauch ohnehin für immer Teil seiner Biografie sein: „Ich kann daran verzweifeln oder es offensiv angehen.“ Seine eigene Familie kennt diesen Teil seiner Geschichte, „Ich möchte Herr meiner eigenen Biografie sein“, erklärt Roland S. sein Motiv.
Mit der katholischen Kirche gebrochen hat er indes nie. Ein Austritt kam für ihn niemals infrage, zu wichtig ist ihm diese Institution. Er hält es auch für falsch, sich „an der katholischen Kirche zu verbeißen“, sieht das Problem eher allgemein in männerbündischen Organisationen und Institutionen. Statt die Kirche zu verlassen, begab er sich Anfang der 90er über Jahre immer wieder zu Exerzitien in ein Kloster, an deren Ende für ihn die eine Erkenntnis stand: “Die Kirche kann man nur von innen ändern.” Der heutige Umgang der katholischen Kirche mit ihrem Missbrauchsskandal gibt ihm dabei ein Stück Zuversicht. „Die Ehrlichkeit wächst“, sagt Roland S., „und das stimmt mich hoffnungsvoll.”
Manfred Ruch
Fotos: Achim Gottschalk, allgrafics.de
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Kontaktadresse für Verdachtsfälle:
Für Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Priester, Ordensleute oder andere kirchliche Mitarbeiter hat das Bistum Trier unabhängige Kontaktpersonen, an die sich Betroffene wenden können:
Fachanwältin Ursula Trappe, Tel. 0151 50681592, und der
Psychologe Markus van der Vorst, Tel. 0170 6093314.